Sehen und Wissen II

In dem Beitrag Sehen und Wissen hatte ich Euch um die Beurteilung eines Szenarios gebeten, hatte aber keine weitere Auskünfte zu dem Hintergrund meiner kleinen Befragung gegeben. Das will ich nun nachholen.

Wie Ihr Euch leicht denken könnt, geht es um den Zusammenhang zwischen (propositionalen) Sehen und Wissen. Einige Autoren sind der Meinung, dass ersteres letzteres impliziert:

(T) S sieht, dass p ⇒ S weiß, dass p

Veranlasst wurde meine Nachdenke über diese These, durch Williamsons Vorschlag in Knowledge and its Limits (2000), Wissen als allgemeinsten faktiven mentalen Zustand zu verstehen. Damit ist Williamson u.a. auf (T) festgelegt. Denn Sehen ist ihm zufolge ein faktiver mentaler Zustand. Dass Wissen ein allgemeinerer faktiver mentaler Zustand ist als Sehen, bedeutet nichts anderes als (T). Aber (T) ist keine Williamsonsche Spezialität. So behauptet z.B. auch Künne in “Sehen” (1995), dass Sehen Wissen impliziert (und Dretske nennt propositionales Sehen gar “epistemic seeing”). Aber impliziert propositionales Sehen wirklich Wissen? Ich habe da meine Zweifel.

Propositionales Sehen. Um diese Frage zu beantworten, muss man freilich genauer wissen, was eigentlich propositionales Sehen ist. Einigermaßen unstrittig scheinen die folgenden Merkmale zu sein (“PS“ steht für “propositionales Sehen”):

(PS 1) Kein Sehen, dass p, ohne dass es der Fall ist, dass p.

(PS 2) Kein Sehen, dass p, ohne Erfassen der Proposition, dass p.

(PS 3) Kein Sehen, dass p, ohne die Meinung, dass p.

(PS 4) Kein Sehen, dass p, ohne angemessene kausale Verbindung zwischen der Meinung, dass p, und der Tatsache, dass p.

(PS 5) Kein Sehen, dass p, ohne geeigneten visuellen Eindruck.

Mit (PS 1) wird Sehen als faktiver Zustand bestimmt. (PS 2) garantiert, dass man nur das sehen kann, was man begrifflich erfassen kann, d.h. wer nicht über den Begriff der Ampel verfügt, kann nicht sehen, dass die Ampel rot ist. (PS 3) impliziert zwar (PS 2), verdient aber dennoch eigens erwähnt zu werden. (PS 3) ist nämlich nicht unstrittig wahr. Angenommen A und B haben den gleichen visuellen Eindruck, der auch auf die gleiche Weise zustande gekommen ist. Beider Wahrnehmungsapparat ist in Ordnung und sie konzeptualisieren auch den Eindruck auf die gleiche Weise. A und B unterscheiden sich nur in ihren Hintergrundmeinungen. Aufgrund dieser Hintergrundmeinungen gelangt A zu der Meinung, dass p, B aber nicht. Warum kann man dann nicht sagen, dass beide sehen, dass p, aber nur B glaubt, dass p? Ich vermute, dass solche Fall nicht als propositionales Sehen durchgehen, weil die betroffene Person selber nicht glaubt, dass sie sieht, dass p. So zumindest mein Eindruck aus einigen Diskussionen zum Thema propositionales Sehen. Statt (PS 3) gehört in die Liste deshalb eher:

(PS 3*) Kein Sehen, dass p, ohne die Meinung, dass man sieht, dass p.

Mit (PS 4) werden Fälle ausgeschlossen, in denen man zwar aufgrund eines visuellen Eindruck zur wahren Meinung, dass p, gelangt, aber die Tatsache und die Meinung nur zufällig miteinander verbunden sind. Ein Beispiel dafür stammt von Künne: Anna sieht nicht, dass die Ampel rot ist, wenn sich aus ihrer Perspektive vor der Ampel eine Pappscheibe befindet, die unter der gegebenen Lichtverhältnissen ein leuchtendes rot reflektiert. Sie sieht auch dann nicht, dass die Ampel rot ist, wenn de facto die Ampel tatsächlich rot ist. Die Kausalkette zwischen der roten Ampel und ihrer Meinung ist nicht angemessen.
(PS 5) ist die heikelste These meiner Liste. Man beachte, dass nicht gefordert wird, dass man den visuellen Eindruck haben muss, dass p. Wie Künne zu recht feststellt, kann man sehen, dass die Ampel rot ist, ohne den visuellen Eindruck zu haben, dass sie rot ist. Wenn man z.B. eine Brille trägt, die Rotes orange aussehen lässt und weiß, dass man eine solche Brille trägt, hat man den visuellen Eindruck, dass die Ampel orange ist, sieht aber, dass die Ampel rot ist. Dennoch ist es notwendig für propsitionales Sehen, überhaupt irgendeinen visuellen Eindruck zu haben. Dieser darf aber auch nicht beliebig sein. Angenommen Anna hört mit geschlossenen Augen Radio. Im Radio wird von einer rätselhaften Welle von Spontanerblindungen berichtet. Anna bekommt es mit der Angst zu tun und öffnet schnell die Augen. Sie hat den visuellen Eindruck, als befinde sich vor ihr ihr rechter Unteram und ein Kissen. Obwohl die Bedingungen erfüllt sind, sieht sie nicht, dass sie nicht erblindet ist. Nahezu jeder beliebige visuelle Eindruck hätte sie zu der Überzeugung gebracht, dass sie nicht erblindet ist. Um solche Fälle auszuschließen, ist in (PS 5) von geeigneten visuellen Eindrücken die Rede. (Vielleicht genügt de fatco (PS 3*) um diesen Fall auszuschließen. Tatsächlich dürfte niemand in einer solchen Situation der Meinung sein, dass er sieht, dass er nicht erblindet ist. Aber wäre nicht jemand denkbar, der aus welchen Gründen auch immer doch dieser Meinung ist? Bei Begriffsanalysen sollte man sich nicht auf kontingente Fakten der menschlichen Psychologie verlassen!)

Sehen, Wissen und Harmanfälle. Also, impliziert Sehen, dass p, Wissen, dass p? Man kann den Eindruck haben, dass mit den Thesen (PS 1) bis (PS 5) die Frage schon positiv beantwortet ist. Aus (PS 1) und (PS 3) folgt, dass Sehen, dass p, die wahre Meinung, dass p, impliziert. Aus (PS 4) und (PS 5) folgt, dass die Meinung nicht bloß zufälligerweise wahr sein kann. Also, so könnte man meinen, sind alle Bedingungen für Wissen erfüllt. Mein Beispiel von letzter Woche sollte ein Gegenbeispiel sein. Es beruht auf der Idee, dass die Formen von Zufälligkeit, die mit Sehen unverträglich sind, nicht die Formen von Zufälligkeit sind, die mit Wissen unverträglich sind. Sehen, dass p, so meine Idee, schließt nicht aus, dass es irreführende unterminierende Informationen gibt, die den Glaubenden aufgrund fahrlässigen Verhaltens seinerseits nicht erreichen. Mit Wissen ist die Existenz solcher Informationen jedoch unverträglich. Beispiele, in denen jemand eine wahre gerechtfertigte Meinung hat, die deshalb kein Wissen ist, weil ihm eine irreführende unterminierende Information entgeht, sind in der Literatur als Harmanfälle bekannt.

Das Beispiel von Anna und den Blumen. Leider habe ich mein Argumentationsziel nicht erreicht. Eine ziemlich große Mehrheit (sowohl hier im Blog als auch außerhalb) ist der Meinung, dass Anna in meinem Beispiel sieht und weiß, dass auf dem Tisch eine Vase mit verwelkten Blumen steht. Ich muss gestehen, dass ich sehr irrtiert bin von diesem Ergebnis. Ich kann nicht anders, als das Beispiel wie folgt auszuwerten: Anna sieht, dass auf dem Tisch eine Vase mit verwelkten Blumen steht, weil (PS 1) bis (PS 5) erfüllt sind. Grob gesagt, sie hat einen visuellen Eindruck, den sie angemessen konzeptualisiert und an der Kausalkette ist alles in Ordnung. Aber sie weiß nicht, dass auf dem Tisch eine Vase mit verwelkten Blumen steht. Schließlich handelt sie epistemisch fahrlässig. Hinweise, die man vor einer ärztlichen Untersuchung bekommt, sind keine Dokumente, die man ungelesen unterschreiben kann, ohne dass dies Auswirkungen auf die Verantwortlichkeit hätte. Man vergleiche: Auf dem Zettel steht außerdem, dass man zwei Stunden nach der Untersuchung nicht Autofahren darf. Auch hier gelte, dass die Informationen nach einer neuerlichen Untersuchung aktualisiert werden würden. Würde man die Wirkungen des Präparats erneut untersuchen, käme man zu dem Ergebnis, dass bereits nach 90 Minuten die Fahrtüchtigkeit wieder vollständig zurückgekehrt ist. Dennoch wäre es unverantwortlich von Anna, wenn sie sich bereits 90 Minuten nach der Untersuchung ans Steuer setzt. “Ich habe den Zettel nicht durchgelesen” wäre keine akzeptable Entschuldigung. Ich sehe nicht, warum dies im epistemischen Fall anders sein sollte. Deshalb weiß Anna nicht, dass auf dem Tisch eine Vase mit verwelkten Blumen steht.

Fazit. Ich hatte gehofft, dass Ihr meine Beurteilung des Falls teilen würdet. Jetzt muss ich mir überlegen, was ich mache. Da ich noch nicht sehe, was an meiner Beurteilung falsch ist, tendiere ich dazu, Eure Beurteilungen als verkehrt abzutun. In solchen Situationen klammert man sich ja gerne an Strohhalme: Vielleicht habe ich in meiner Schilderung des Szenario nicht deutlich gemacht, dass (i) Anna fahrlässig die Information nicht zur Kenntnis nimmt und (ii) seitens des Pharmaunternehmens und der Ärztin nichts verheimlicht wird. Außerdem könnte ich hinzufügen, dass Anna eine Art Schlafbrille ausgehändigt bekommt und sich wundert, warum sie so etwas bekommt. So oder so bleibt bei mir der Eindruck hängen, dass “Intuitionen” eine schlechte Argumentationsbasis sind. Es ist schon merkwürdig, dass meine Intuitionen so sehr von denen der Mehrheit abweichen können und ich dennoch der Meinung bin, dass kein vernünftiger Mensch einer anderen Meinung sein kann!

Vielleicht sollte ich unter den Teilnehmern der Logikklausur im nächsten Wintersemester eine Befragung mit dem modifizierten Szenario durchführen!? (Ich hoffe, keiner, der dies hier liest, hat vor, an der kommenden Logikvorlesung teilzunehmen…) Vielen Dank jedenfalls an alle, die mich ihre Beurteilungen haben wissen lassen!

Literaturhinweise

Künne, Wolfgang: “Sehen”, in: Logos Neue Folge 2 (1995), pp. 103-121. (Ein Artikel, der übrigens nicht die Beachtung bekommen hat, die er verdient!)

Williamson, Timothy: Knowledge and Its Limits. Oxford: OUP, 2000.