Werte und Wissen III

Dies ist der dritte Teil der kleinen Reihe zum Menon-Problem, enthält aber nicht, was er laut Ankündigung im zweiten Teil enthalten sollte. Stattdessen geht es nur um die Frage, wie Sätze der Art „Hasen sind schneller als Igel“ zu verstehen sind. Offenkundig ist der Satz nicht schon deshalb falsch, weil es einen Hasen gibt, der gegen einen Igel ein Wettrennen verliert. Die Frage ist wichtig, weil bei „Wissen ist mehr Wert als bloß wahre Meinung“ das gleiche Problem auftritt.

Das Problem kam in vielen der Dresdener Vorträge zur Sprache. Fast jeder Vortragende merkte an, dass die Menon-Intuition natürlich falsch sei. Schließlich genüge, um das zu zeigen, ein einziges Gegenbeispiel. Der Vorschlag war dann, die Menon-These zu verbessern zu Wissen ist meistens oder manchmal besser als wahre Meinung.

Nebenbei: Ein Gegenbeispiel zu finden, das die Menon-Intuition über jeden Zweifel erhaben widerlegt, ist nicht einfach. Beispiele wie Telefonbuchwissen sind problematisch. In ihnen ist Wissen und bloß wahre Meinung gleich wertvoll, nämlich gar nicht. Für meinen Geschmack wird hier jedoch eine Voraussetzung der Menon-Intuition verletzt. Die Menon-Intuition scheint mir genau genommen zu besagen: Gegeben, dass – wie wir doch alle meinen – wahre Meinung wertvoll ist, ist Wissen noch wertvoller. Man vergleiche „Töten ist schlimmer als Stehlen“. Mit einer Äußerung dieses Satzes wird zumindest vorausgesetzt (wenn nicht gar impliziert), dass Töten und Stehlen schlimm sind. Interessant sind deshalb vorrangig Gegenbeispiele, in denen zwar die wahre Meinung, dass p, wertvoll ist, aber das Wissen, dass p, nicht wertvoller (d.h. gleich oder weniger wertvoll oder gar wertlos). Das Telefonbuchbeispiel erfüllt diese Bedingung nicht. – Das Folgende ist von diesen Überlegungen unabhängig.

Ich stimme zu, dass man die Menon-Intuition missversteht, wenn man sie als strikte Allaussage versteht. Das ist einfach nicht gemeint! Einen ersten Vorschlag für eine bessere Lesart der Menon-Intuition – gemeint ist: meistens oder manchmal – habe ich schon genannt.

Statistische Lesart. Hasen sind meisten schneller als die meisten Igel und ist meistens Wissen, dass p, besser als die bloß wahre Meinung, dass p. „meistens“ bedeutet hier, je nach Fall, mehr als 80% bis 98%.

Dieser Vorschlag ist nicht sehr attraktiv. Zunächst tritt das Problem auf, dass Meinungen nicht gezählt werden können. Solange kein Vorschlag auf dem Tisch ist, wie man das tun könnte, sind Aussagen wie „In 80% aller Fälle ist Wissen mehr wert als bloß wahre Meinung“ leer. Eine weitere Abschwächung, etwa zu „manchmal“ oder „es kommt vor, dass…“ läuft Gefahr, die These zu trvialisieren. Für beliebige Zustände, Sachverhalte, Ereignisse etc. A und B gilt, dass manchmal A besser ist als B. Im Zweifelsfall nehme man an, dass ein Weltverbrecher die Welt zerstört, wenn A nicht eintritt. Also ist A manchmal besser als B. Selbst wenn die These nicht im strikten Sinne trivial sein sollte, stellt sich die Frage, ob die These überhaupt eine philosophische These ist.

Eine andere, nun vielleicht naheliegende Antwort ist unergiebig.

ceteris paribus Lesart. Hasen sind ceteris paribus schneller als Igel, d.h. bei gleichbleibenden Bedingungen oder wenn keine externen/nicht intendierte Einflußfaktoren vorliegen

Diese Antwort ist unergiebig Denn die Phrase „ceteris paribus“ ist nicht besser verständlich als die ursprünglichen Sätzen. Wenn wir herausbekommen wollen, wie nicht-strikte Allsätze zu verstehen sind, dann ist die Auskunft „Als ceteris paribus-Aussagen!“ nur eine Neubeschreibung des Problems.

Es gibt eine aktuelle Debatte darüber, ob (und wann) man mit „alles“ wirklich ALLES meint. Das ist einerseits interessant, weil man mit der Annahme, man könne über ALLES quantifizieren, leicht in logische Probleme gerät, andererseits aber sehr selten mit „alles“ überhaupt beabsichtigt über ALLES zu sprechen. So sagt man „Hast du auch an alles gedacht?“ oder „Es sind alle da; wir können losgehen“, ohne wirklich ALLES bzw. ALLE zu meinen.

Die „war gar nicht so gemeint“ Lesart. Wir sagen oft „alle“, ohne wirklich „alle“ zu meinen. Wir meinen eigentlich „alle relevanten Dinge oder Personen usw.“ Ebenso ist mit „Hasen sind schneller als Igel“ vielleicht gemeint: Die Hasen, die ich und du so kennen, sind schneller als der eine Igel, den wir schon mal zusammen beobachtet haben. Mit „Wissen ist wertvoller als bloß wahre Meinung“ wäre entsprechend „Relevante Fälle von Wissen sind wertvoller als bloß wahre Meinung“.

Das Problem mit dieser Lesart ist offenkundig. Während im Kontext der Äußerung von „Alles sind da“ klar ist, wer gemeint ist, gibt es gar keinen Anhaltspunkt, welche Domänenbeschränkung des Allquantors bei „Wissen ist wertvoller als bloß wahre Meinung“ im Spiel ist. Diese Lesart ist durchaus eine mögliche Lesart, aber keine mit besonders großer Ausgangsplausibilität.

Damit komme ich zu der besten Lesart, die mir eingefallen ist. Das heißt nicht, dass ich sie für in jeder Hinsicht befriedigend halte, aber sie ist meines Erachtens immerhin besser als die anderen Vorschläge (aber aus “besser” folgt eben noch nicht “gut”).

Explanatorische Lesart, Variante A. Wenn ein Hase ein Wettrennen gegen einen Igel gewinnt, muss das nicht erklärt werden, geht das Rennen umgekehrt aus, muss das jedoch erklärt werden. Variante B. Ist eine Hase schneller als ein Igel wird dies nicht durch die spezifischen Eigenschaften dieses Hasen oder dieses Igel oder der konkreten Rennsituation erklärt. Die Erklärung hebt auf Arteigenschaften oder wesentliche Eigenschaften ab. Gewinnt dagegen der Igel, wird auf individuelle Eigenschaften verwiesen.

Variante A habe ich mehr zur Abgrenzung aufgenommen. Es ist schwierig einen nicht-psychologistischen, nicht-personenrelativen Sinn von „muss (nicht) erklärt werden“ zu entwickeln. Da dieses Problem bei Variante B nicht auftritt, bevorzuge ich diese.
Ich halte mich nun also an Variante B. Die Vorhersage ist also die: Ist in einem Fall bloß wahre Meinung besser als Wissen, so liegt das an einer speziellen Eigenschaft des Falles; etwa daran, dass die Meinung uninteressant ist. (Es ist keine notwendige Eigenschaft bloß wahrer Meinungen uninteressant zu sein.) Ist aber Wissen besser als bloß wahre Meinung, liegt das an einer wesentlichen Eigenschaft F von Wissen (also einer Eigenschaft, die keine Besonderheit der Situation darstellt). Welche Eigenschaft dieses F sein könnte, ist naturgemäß umstritten; Kandidaten sind Nicht-Zufälligkeit, modale Sicherheit und vieles mehr. (Rechtfertigung scheidet aus, da dann nicht plausibel gemacht werden kann, dass Wissen besser ist, als gegettiert zu werden.)
Dass diese Lesart aussichtsreich ist, lässt sich vielleicht am besten mittels eines Vergleichs mit einem anderen Beispiel zeigen, nämlich „Töten ist schlecht“ (oder auch „Töten ist schlimmer als Stehlen“). Nicht jede Tötung ist verkehrt, so ist zum Beispiel Notwehr erlaubt. Aber es gilt dennoch: Wenn eine Tötung verkehrt ist, dann aufgrund einer notwendigen Eigenschaft des Tötens, nämlich der, dass dann ein menschliches Leben endet. Wenn eine Tötung erlaubt ist, dann aufgrund einer kontingenten Eigenschaft, z.B. der, dass Töten die einzige Möglichkeit ist, einen Angriff auf das eigene Leben abzuwehren.

Natürlich, sollten die Instrumentalisten recht haben, ist Wissen nicht wegen einer seiner notwendigen Eigenschaften wertvoll, sondern wegen seiner kontingenten Eigenschaft, manchmal zur Erfüllung der eigenen Wünsche beizutragen. Wenn die Menon-Intuition tatsächlich gemäß der explanatorischen Lesart zu verstehen ist, dann verteidigen die Instrumentalisten nicht wirklich die Menon-Intuition, sondern nur die Menon-Intuition in einer statistischen Fehlinterpretation. Das wäre auch ein interessantes Ergebnis!

Im vierten Teil der kleinen Reihe zum Menon-Problem werde ich dann wirklich schreiben, was am Instrumentalismus – d.h. der These, dass Wissen nur einen abgeleiteten Wert hat – ungereimt ist und welche Position ich deshalb bevorzuge.